Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten, nachdem das Statistische Bundesamt mit 15,1 Tagen den durchschnittlichen Krankenstand in Deutschland von 2023 vermeldete. Deutschland sei mittlerweile “Weltmeister bei den Krankmeldungen”, kritisierte der Vorstandschef des Allianz-Versicherungskonzerns, Oliver Bäte. Das erhöhe die Kosten im Gesundheitssystem. Sind die Deutschen also eine Nation von Simulanten?
Markus Beier, der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes, widerspricht vehement. Er sagt der DW: “Nein, wir sind kein Volk der Blaumacher. In diesen Tagen sehe ich in meiner Praxis genau das, was auch die Auswertungen der Krankenkassen in den letzten Monaten gezeigt haben: Es kommen mehr Menschen mit akuten Infektionen in die Praxis. Das ist zum Teil auch ein Nachholeffekt nach der Pandemie.”
Auch Ärztepräsident Klaus Reinhardt sieht verstärkte Infektionen als Hauptgrund für den Rekordkrankenstand. Es komme “nicht in großem Stil vor”, dass Menschen nur krank spielten. Seit der Corona-Pandemie ließen sich mehr Menschen generell bei Infekterkrankungen krankschreiben. Der Aspekt des Nichtansteckens habe eine andere Qualität gewonnen in den zwei, drei Jahren des Lockdowns und der Infektionsvermeidung.
Erkältungswellen und Corona-Infektionen sind das eine, bei Markus Beier fragen aber zunehmend Menschen mit anderen Krankheiten nach einem Termin: “Noch besorgniserregender ist, dass immer mehr Patienten unter psychischen Erkrankungen und chronischen Schmerzen leiden. Das sind häufig auch sehr langfristige Erkrankungen.”
Alter der Beschäftigten steigt, damit auch die Krankheiten
Als das Institut der Deutschen Wirtschaft vor einigen Wochen veröffentlichte, dass die Arbeitgeber 2023 die Rekordsumme von 76,7 Milliarden Euro für Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall berappen mussten, stellte FDP-Chef Lindner die telefonische Krankmeldung in Frage. Seit Dezember 2023 können sich Patientinnen und Patienten hierzulande per Telefon vom Hausarzt für maximal fünf Tage krankschreiben lassen. Sind die Krankenzahlen also so hoch, weil die Krankmeldung so einfach geworden ist?
Markus Beier verneint auch das: “Es gibt überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür, dass der hohe Krankenstand mit der Möglichkeit, telefonisch krankzuschreiben, zusammenhängt. Die gilt ja auch nur für Menschen, die in der jeweiligen Praxis Patient sind und deren Krankheitsgeschichte wir kennen. Wir erleben keinen nennenswerten Missbrauch.”
Der Chef der deutschen Hausärzte ist sich dagegen sicher, dass die Einführung der elektronischen Krankschreibung an Arbeitgeber und Krankenkassen ein weiterer Grund für den hohen Krankenstand in Deutschland ist. Weil früher nicht alle Patienten ihr Attest an die Kassen geschickt hatten, seien nicht alle Krankschreibungen erfasst worden. Seit dem 1.Januar 2023 seien es 100 Prozent. Und außerdem: “Was man sieht, ist, dass das Durchschnittsalter der Bevölkerung und der Beschäftigten steigt. Damit steigt auch die Zahl der chronischen Erkrankungen und der Krankheitstage.”
Krankheitsstand hat Folgen für die deutsche Wirtschaft
Doch so plausibel die Gründe für den hohen Krankenstand in Deutschland auch sein mögen, sie haben massive Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Der Verband forschender Pharmaunternehmen kam vor einem Jahr in einer Studie zu dem Ergebnis, dass Deutschland auch deswegen in eine Rezession geschlittert sei. Studienleiter Claus Michelsen ist deshalb nicht wirklich überrascht, dass die Diskussion über die kranken Deutschen jetzt wieder aufploppt. Er sagt der DW:
“Wir sind nach wie vor ein Land mit einem relativ hohen Krankenstand. Deutschland ist sozusagen kränker als andere europäische Länder. Das macht sich wirtschaftlich bemerkbar und schlägt auf die Konjunktur durch. Für das Jahr 2023 haben wir errechnet, dass die Wirtschaftsleistung bei normalem Krankheitsgeschehen um knapp 0,8 Prozent höher ausgefallen wäre.”
Diskussion über Wiedereinführung des Karenztages
Was den Allianz-Vorstandsvorsitzenden Oliver Bäte jetzt auf eine Idee brachte: Wie wäre es denn, in Deutschland den sogenannten Karenztag wieder einzuführen, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag also zu streichen? Damit könnten pro Jahr 40 Milliarden Euro eingespart werden. Ein Gedanke, für den sich vor kurzem auch Monika Schnitzer erwärmen konnte. Sie ist Chefin der sogenannten Wirtschaftsweisen, einer Gruppe Wissenschaftler, die die Bundesregierung in Wirtschaftsfragen berät.
Auf den Vorschlag hagelte es Kritik. Der Deutsche Gewerkschaftsbund warnte vor den Folgekosten und Ansteckungs- und Unfallgefahren durch immer zahlreichere Fälle von krank bei der Arbeit erscheinenden Personen. Die Industriegewerkschaft Metall bezeichnete es als unverschämt und fatal, den Beschäftigten Krankmacherei zu unterstellen. “Wer Karenztage aus der Mottenkiste holt, greift die soziale Sicherheit an und fördert verschleppte Krankheiten”, sagte Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban.
Hausarzt Markus Beier warnt, dass ein solcher Karenztag vor allem sozial Schwächere treffen würde oder auch Frauen, die durch ihre Regel auch mal einen Tag nicht arbeitsfähig seien. Claus Michelsen vom Verband forschender Pharmaunternehmen fügt hinzu: “Der Grund, warum man den Karenztag in den 1970-er Jahren abgeschafft hat, war, dass man vermeiden wollte, dass man seine Kolleginnen und Kollegen ansteckt. Das ist grundsätzlich ein richtiges Ansinnen.”
Mehr und mehr Länder suchten deswegen nach Alternativen zum klassischen Karenztag, weil die Ansteckungen im Betrieb zu sehr um sich griffen. Michelsen empfiehlt deswegen einen Blick nach Skandinavien: “In Schweden hat man beispielsweise das Modell der Teilkrankschreibung erfolgreich eingeführt, was bei leichteren Erkrankungen unter anderem das Arbeiten aus dem Homeoffice ermöglicht.”
Deutschland muss noch mehr bei der Prävention tun
Auch in Spanien und Griechenland gibt es den Karenztag, in Ländern wie den USA, Kanada, Japan oder Südkorea existiert keinerlei flächendeckende Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Doch es gilt als sehr unwahrscheinlich, dass Deutschland, das 1884 als eines der ersten Länder weltweit die flächendeckende Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einführte, dieses heiße Eisen anfasst. Die Regelung sichert bis zu sechs Wochen ab dem ersten Krankheitstag 100 Prozent des Einkommens.
Stattdessen empfiehlt Claus Michelsen, durch vorbeugende Maßnahmen den Krankenstand zu reduzieren: “Wir sollten die Prävention als Baustein des Gesundheitswesens stärken. Helfen kann beispielsweise der elektronische Impfpass, der Impfungen auf der Krankenkarte speichert und nicht in einem Büchlein. Dann wird man direkt daran erinnert, wenn der Impfschutz nicht mehr aktuell ist. Früherkennungsmaßnahmen oder auch einfach die Rückenschule können Krankheiten schneller erkennen beziehungsweise die Folgen lindern.”