Vincent Keymer – in der Schach-Weltspitze angekommen – DW – 09.01.2025


“Ich komme langsam in das Alter, in dem der Jugendbonus wegfällt”, sagt Vincent Keymer und muss ein wenig lachen. Seit ein paar Wochen ist der junge Mann aus dem Örtchen Saulheim bei Mainz 20 Jahre alt. Er ist seit fünf Jahren Schach-Großmeister, seit seinem Abitur 2023 Schach-Profi und aktuell auf Platz 20 in der Weltrangliste. So gut wie Keymer war in Deutschland seit den Hochzeiten des kürzlich verstorbenen Kölner Großmeisters Robert Hübner in den letzten 50 Jahren niemand mehr.

“Top 20 ist schön, aber es nicht das, wo ich langfristig stehen will”, sagt Keymer im Gespräch mit der DW. Sein Ziel für die nächsten Monate ist es, sich für das Kandidaten-Turnier zur WM 2026 zu qualifizieren. Nicht nur in der deutschen Schach-Szene gibt es viele, die dem gleichermaßen abgeklärten wie selbstbewussten Keymer zutrauen, in den nächsten Jahren um den WM-Titel zu spielen.

Varianten für Weltmeister Gukesh

Sollte das diesmal schon klappen, dann wäre sein Gegner der noch ein paar Monate jüngere Dommaraju Gukesh aus Indien, der vor Weihnachten dem Chinesen Ding Lirenin einem knappen Match die WM-Krone entrissen hat. Mit einem Sieg, an dem auch das Großtalent aus Deutschland einen Anteil hatte. Nach dem WM-Kampf wurde bekannt, dass Keymer zum Sekundanten-Team des Inders gehörte. “Bei meiner Arbeit ging es darum, die Eröffnungen mit vorzubereiten”, sagt Keymer. Die ersten Züge sind im Schachsport von großer Bedeutung. Das Ziel: Dem Gegner möglichst schon am Anfang vor Probleme stellen und vermeiden, selbst überrascht zu werden.

Dommaraju Gukesh aus Indien ist der jüngste Schachweltmeister aller ZeitenBild: FIDE/dpa/picture alliance

Während Gukeh und Ding Liren Ende 2024 im fernen Singapur miteinander rangen, saß Keymer mit zwei Großmeister-Kollegen in einer Villa in Spanien und analysierte Züge am Computer. Profi-Schach ist seit vielen Jahren geprägt von der Zusammenarbeit von Mensch und Maschine. “Ich habe mit einem normalen leitungsstarken PC gearbeitet. Das ist inzwischen völlig ausreichend, um auch in einem WM-Kampf die Varianten vorzubereiten”, berichtet Keymer. Sobald er und seine Kollegen eine interessante Zugfolge ausgetüftelt hatten, schickten sie diese nach Singapur. “Es ist gewünscht, seinen eigenen Stil und seine Ideen einzubringen. Aber am Ende entscheidet natürlich Gukesh mit seinem Cheftrainer, was auf das Brett kommt.”

Mensch und Maschine

Der Computer ist seit 1997 nicht mehr aus dem Schachsport wegzudenken. Damals gewann der IBM-Großrechner “Deep Blue” gegen den damaligen Weltmeister Gary Kasparow. Der nächste große Entwicklungsschritt kam 2017: Der Google-Forscher und Nobelpreisträger Demis Hassabis setzte die selbstlernende künstliche Intelligenz (KI) “Alpha Zero” auf das traditionsreiche Schachspiel an. Inzwischen ist diese Technologie in das PC-Schachprogramm “Stockfish” integriert, das im Computerschach das Maß der Dinge ist. Die Folge: Immer mehr Eröffnungen, an denen die Schach-Profis jahrzehntelang gefeilt haben, sind inzwischen mit Hilfe der Rechner “ausanalysiert”. Die besten Zugfolgen sind zumindest Gukesh, Keymer & Co bekannt und enden zumeist im Unentschieden.

Wird Schach jetzt langweilig? Vincent Keymer winkt ab. “Jetzt wird es wieder interessant”, findet der Großmeister. “Die junge Generation, zu der ich mich auch zähle, ist sehr ambitioniert und will nicht remisieren [auf Remis spielen – Anm.d.Red].” Statt der etablierten Eröffnungssysteme kommen immer öfter sogenannte Nebenvarianten auf das Brett – für die Computer vielleicht nicht die allererste Wahl, dafür aber in der Praxis chancenreich. Kalkuliertes Risiko lautet die Devise. Denn anders als die fast allwissenden Computer können sich Menschen beim Spiel am Brett nicht alle Zugfolgen merken und machen unter Zeitdruck Fehler. “Kritisch ist der Übergang von der Vorbereitung zum eigenen Denken”, so Keymer. “Auf meinem Niveau kann schon eine kleine Änderung in der Zugfolge die Partie kosten.”

Doch nicht alle in der Schach-Szene sehen das so wie der junge Deutsche. Allen voran Ex-Weltmeister Magnus Carlsen, weiterhin die Nummer eins in der Weltrangliste, hat keine große Lust mehr, mit Hilfe von immer besseren KI-Systemen immer neue Seitenpfade in den Eröffnungen auszutesten. Carlsen konzentriert sich inzwischen auf Schnellschach, eine Disziplin, in der Vincent Keymer auch schon einmal Vize-Weltmeister war. Eine Schnellschach-Partie dauert meist weniger als eine Stunde. Beim klassischen Schach sitzen die Spieler oft mehr als fünf Stunden am Brett. “Es stimmt schon, dass viele der Top-Spieler schnellere Zeitkontrollen befürworten”, bestätigt Keymer. Aber für ihn sei noch nicht der Punkt erreicht, an dem das klassische Schach keinen Spaß mehr mache.

“Freestyle” statt Computer-Vorbereitung

Großes Interesse hat Keymer jedoch an einer Schach-Variante, die der einst der legendäre US-amerikanische Champion Bobby Fischer erfunden hat: Beim “Fischer Random” wird vor jeder Partie die Ausgangsstellung ausgelost, die Computer-Vorbereitung wie beim klassischen Schach entfällt also. Und genau das macht den Reiz für viele Spieler aus. Diese Schach-Variante wird seit einem Jahr von dem Hamburger Unternehmer Jan Henric Buettner propagiert, der inzwischen auch Keymer und andere deutsche Talente finanziell unterstützt.

Buettner nennt das “Freestyle” und organisiert eine eigene Turnierserie mit den besten Spielern der Welt. Mit dabei ist – neben Carlsen und Weltmeister Gukesh – auch Vincent Keymer: “Freestyle hat noch ein großes Entwicklungspotenzial”, findet Deutschlands bester Schachspieler.

Das nächste große Freestyle-Event steht für Keymer im Februar an. Davor wartet auf den Schach-Profi aber noch das traditionsreiche Turnier im niederländischen Wijk aan Zee, das als “Wimbledon des Schachs” gilt. Dort trifft er auch auf einen Spieler, den er vor einigen Wochen noch als Sekundant auf dem Weg zum Weltmeister-Titel unterstützt hat: Dommaraju Gukesh. “Die Vorbereitung für Wijk aan Zee ist schon auf einem ähnlichen Niveau wie bei einer WM”, sagt Keymer. “Deshalb arbeite ich jetzt mit dem gleichen Anspruch an Qualität und Präzision.” Gukesh sollte sich also in Acht nehmen: Die Schach-Szene ist schon jetzt gespannt, welche trickreichen Nebenvarianten Keymer auf seinem PC für die Partie gegen den Weltmeister vorbereitet hat.



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